Abdulah Sidran (1944 – 2024)


Bio-Bibliographie

MORA <=> MORA
EIN SPAZIERGANG MIT STEVAN <=> ŠETNJA SA STEVANOM
IN SARAJEVO KANN MAN NICHT LEBEN <=> Ne može se živjeti u Sarajevu


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MORA

Was machst du da, mein Sohn?

Ich träume, Mutter. Ich träume, Mutter, wie ich singe,
und du fragst mich in meinem Traum: Was tust du da, mein Sohn?

Worüber singst du im Traum, mein Sohn?

Ich singe, Mutter, dass ich ein Haus hatte.
Und jetzt habe ich kein Haus mehr. Das ist es, worüber ich singe, Mutter.

Dass ich eine Stimme hatte, Mutter, und meine Sprache.
Und jetzt habe ich keine Stimme und keine Sprache mehr.

Mit einer Stimme, die ich nicht habe, in einer Sprache, die ich nicht habe,
über das Haus, das ich nicht habe, singe ich ein Lied, Mutter.

Aus dem Bosnischen von Cornelia Marks
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EIN SPAZIERGANG MIT STEVAN

Lass uns also auf diesen letzten Spaziergang gehen, Bruder,
Stevan. Haben wir etwa nicht schon alles gesagt – sprechend
in einer Sprache, in der das Göttliche wohnt, und in der die Linde
duftet, ganz und gar slawisch, auch ein wenig eisig –
haben wir nicht schon alles gesagt, wurde nicht schon
alles genannt, was einer Erwähnung wert ist?

Lass uns diesen überzähligen Spaziergang machen, Stevan,
Bruder. Noch einmal müssen wir diese Stadt besuchen und
schließlich unsere Bilanz minimieren: Weswegen wurde
Zeit verschwendet, wofür Energie vergeudet, wozu
Papier beschmiert? Doch nicht etwa: Im Namen der Strophe, des Verses
und des allzu hell erstrahlenden Gedichts?

Lass uns diesen traurigen Spaziergang machen, mein Stevan.
Lass die Blitze vergangener Jahre zucken! Die Art und Weise,
menschlich in allem zu sein, haben wir sie gefunden? Tugend und
Wissen, sind sie Seite an Seite gewachsen? Für alles Reden
brauchte es eine Fackel der Worte, ein Licht
an vorderster Front – wie wünschten wir uns, dass es werden möge?

Lass uns wieder den gleichen Weg gehen, Bruder. Aber
zunächst: Wir sollten jenes stolze, schöne
Sprechen vergessen, keinesfalls nach Worten suchen, sondern
den Hund der Sprache von der Kette lassen, soll er bellen und fauchen, mit verdrehten
Eingeweiden. Auf keinen Fall sagen wir: wie, denn unvergleichlich sind
die Dinge, und nichts gleicht irgendetwas anderem.

Wir werden den gleichen Weg einschlagen und die Dinge wieder
auf die gleiche Weise betrachten, aber jetzt aus einem anderen Blickwinkel –
aus einem allgemeinen Blickwinkel und in einem anderen Licht,
im absoluten Licht. Wir werden die gleichen Frauen
sehen, wie sie ihre Körper tragen, und wie sie niemals
wissen werden, niemals, was sie uns nehmen, während sie sich an uns verschenken.
Wir brauchen etwas mehr Rauheit, auf der Haut der Lyrik –
die Geißel der Tatsachen!

Denn ich will, Engel, dir die Nacht zeigen. Orte,
an denen sich der noch unbesungene Abschaum versammelt. (Die Dichter, siehe,
sie regulieren ihre Visiervorrichtungen, gegen das Mondlicht gelehnt,
im endlosen Feld der Manöver des Überflüssigen!) Ich will
dir dieses Leben zeigen, realer als jenes
aus Versen geschmiedete (mit Placebo, Tag für Tag), die Harmonie
des Alkohols, der nächtlichen Tätowierungen, der öffentlichen Bäder,
der Volksküchen!

Überall Menschen bei der Arbeit, Menschen am Werke, die Opposition,
der Handel, die Weisheit des Nachgebens, ein nützlicher Wind
aus dem Bauch und aus dem Meer! Also, wer brauchte sie jemals,
unsere Leiden der Anachronie! Hier, wo einst erwischt wurden –
ein Marktplatz, eine Menschenmenge: Im Sommer – Duftgarten,
im Winter – Kohl, dazwischen – Grün, Paprika, Petersilie.
Der Handel blüht, die Rhetorik reift, im rasanten Aufstieg
des Glücksspiels!

Dort errichtete der Bezwinger den Tempel aus den Siegen
der Mächtigen, um die Seele zu erlösen. Hier können wir innehalten und lauschen,
wie uns die Haare wachsen, wie die Nägel sprießen, wie
die Zähne faulen, wie großartig der Empfangsapparat funktioniert,
für die posthume Aufbereitung des Datensammelns! Ach,
wohin ist mein fliegender Teppich der Pubertät entschwunden?

Ich sehe jetzt nur noch die Wirklichkeit: Die Grenzen meines
Körpers sind auch die Grenzen meines Geistes! Ist das eine Strafe
für meinen doppelten Atheismus? Von mir aus soll es so sein, aber ich
lasse hinter mir einen Knochen zurück, ich lasse hinter mir
das Schlüsselbein zurück, und mit ihm wird
das Wesen dieses Desasters rekonstruiert werden!

Unsere künftigen Leser werden so den Klangpunkt finden,
wenn die Brücke zusammenbricht, wenn alles zerfällt, in
ihren Eingeweiden, in ihrer Essenz. Und der, der das schreibt,
wird sich in einen kahlen Baum verwandeln, in einen kahlen Winterbaum,
der aus Beton wächst, mit Blättern aus Stöhnen,
mit Ästen aus Schreien!

Die Straße hinunter geht des Soldaten Mutter, Šuhra
Milosnica. Grasland, ruhiges! – Auf uns jedoch
warten Tätigkeiten, öffentliche Aktivitäten, die keinen
Aufschub dulden, literarische Abende, Humor und Satire:
Wohin mit den Pferden? Ins Sonett, ins Sonett, in den Wagen,
unter die Peitsche! Wohin mit den Schafen? Ins Sonett, ins Sonett,
in den Schlachthof unters Messer! Wohin mit den Menschen? In die Reime,
in die Dramen, in den Schützengraben und ins Grab!

Hier verrottete der Biedermeier, dort krepierte
Europa: Trauer und Leiche mit einer Fahne bedeckt:
Liberté, Égalité und Fraternité, d.h. Jugend,
Armut, gute Laune! Schau einmal dort:
Die Lebensfreude im Stottern des Stöhnens, da, siehe: gesenkte
Köpfe, schwarze Masten, bandiera bianca, bandiera bianca!

Also, wo ist unsere Arche? Hier drüben das Boot! Vorbei
am Becken! Zieh das Seil fest! Verknote es! – Haben wir nicht schon
vor langer Zeit alles gesagt, was gesagt werden musste?

Der Geist Sidrans, siehe, er schwebt über der Miljacka!

Aus dem Bosnischen von Cornelia Marks
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IN SARAJEVO KANN MAN NICHT LEBEN

In Sarajevo kann man nicht leben.
Wenn man in Sarajevo lebt, verschwendet man zu viel Zeit.

Während ich dort bin, während ich hier bin – vergeht der Morgen.
Während dies ist, während jenes ist – vergeht der Tag.

Zwar wird all das – unter Menschen geschehen.
Und es wird eine ausnehmend schöne Geschichte werden.
Doch von Geschichten kann man nicht leben.
Tag ist Tag, Arbeit ist Arbeit, und Zeit ist – so heißt es – Geld.

Ob man sich nun darauf einlässt oder nicht, die Wahrheit ist: Es ist schwer,
in Sarajevo zu leben. Du machst drei Schritte – da sind siebzig Leute,
die du mit bloßem Auge siehst. Um jeden Einzelnen zu umarmen, einigen
die Hand zu schütteln, nur zwei genau unter die Lupe zu nehmen, müsstest du –
drei Leben haben.

Deshalb ist es – egal wie man es dreht oder wendet – unmöglich,
in Sarajevo zu leben. Vom Guten – tut einem der Kopf weh. Es sollte
sofort, auf höchstem Weltniveau, ein völlig neues Sarajevo
erschaffen werden, in dem es möglich wäre, zu leben.

Wenn es, so Gott will, erschaffen wird –
möge seine Geografie die gleiche bleiben, möge auch die Miljacka die gleiche bleiben,
sie ist schön, und weder ein Bach noch ein Fluss,
mögen ebenso die Berge die gleichen bleiben.

Lasst sie sterben, aber sich nicht verändern –
all die Menschen, die in Sarajevo leben.

Denn in dieser Stadt kann man nicht leben.
Das Leben ist zu kurz für Sarajevo.

Aus dem Bosnischen von Cornelia Marks
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Abdulah Sidran war ein jugoslawischer bzw. bosnischer Lyriker, Schriftsteller und Drehbuchautor aus Sarajevo. Anfang der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts hat er die Drehbücher zu den Filmen "Erinnerst Du Dich an Dolly Bell?" und "Papa ist auf Dienstreise" von Emir Kusturica geschrieben. Später überwarfen sich die beiden wegen ihrer unterschiedlichen politischen Meinungen zum Bosnien-Krieg. Zu seinem Tod würdigte Emir Kusturica ihn als ein außergewöhnliches Talent. Abdulah Sidran war außerdem Autor verschiedener Lyrik-Bände. 1994 erhielt er den Freedom Prize des französischen PEN-Zentrums. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt.

 
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