Mile Stojić (*1955)


Bio-Bibliographie

Cherubs Schwert <=> Kerubinski mač
Staub <=> Prašina
Milica Mandžo <=> Milica Mandžo
Zug ohne Wiederkehr <=> Zug ohne Wiederkehr


Cherubs Schwert

Es stach hindurch. So gut es konnte. Und es wusste.
Durch Glut und Lava, vor des Cherubs Schwert
Über den Henkersplätzen, wo das Auge stehen musste
Die Lippe riss am Glas, der Wein war kaum geleert.
Es stach hindurch. Wie es sich gab. Es wagte.
Gesichter blieben eingefroren, da kein Lächeln lohnte.
Die Seele schneite fort, im Leib, der nicht entsagte
Fragt sich, was für Gefilde sind das? wer hier wohnte?
Es stach hindurch. Frag nicht woher. Mit welcher Bürde.
Der Leib ist müde, doch die Seele nicht, sie träumt noch leise
Dass bald ein Ende dieser eisigen Winter kommen würde
Oder vielleicht das Ende dieser quälend langen Reise.

Aus dem Kroatischen von Cornelia Marks

(Entnommen dem Gedichtband: Mile Stojić, Među zavađenim narodima / Zwischen verfeindeten Völkern. – Zagreb: V.B.Z. 2009)


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Staub

Und die das Dorf verlassen, wandern lang,
und viele sterben vielleicht unterwegs.
                                                 
Rilke


Ich kehre den Staub in der Wohnung, in die ich zurückkam
Nach dem Krieg. Die Böden werden wieder erglänzen
Die Krater in der Wand wird der Kalk verbergen. Mein Besen schiebt
Häufchen Staub in den Eimer, so wie die Erkenntnis
Die Scherben der Welt in die Grube des Vergessens kehrt.

Ich weiß nicht ob ich hier jemals gewohnt habe
Ich kenne die Dinge nicht die der Staub bedeckt
Nicht die Fotografien an der Wand, auf denen
Unter den Spinnweben unsere Gesichter voller Zuversicht flackern
Jetzt verstört und alt vor dem stählernen Besen

Über den Krieg erzählen besser die Toten als die Überlebenden
Ihre Stimme reicht bis zu uns aus dem allgegenwärtigen
Staub, aus galaktischen Partikeln, welche ich mit dem Besen
In kaum energischen Schwüngen zähme
Während der Mittag fröhlich in der aschfahlen Heimat singt

Ich säubere die Wohnung vom Staub, vom Müll der Erinnerung
Dass sich das Weiß wieder zeigt im Tag und im Traum
Und Sarajevo erneut in seiner Unschuld erstrahlt
Und der Kreis sich schließt aus dem es keinen Ausgang gibt
Denn die von hier fortgehen, wandern lang
Und viele von ihnen sterben vielleicht schon unterwegs

Aus dem Kroatischen von Cornelia Marks

(Entnommen dem Gedichtband: Mile Stojić, Među zavađenim narodima / Zwischen verfeindeten Völkern. – Zagreb: V.B.Z. 2009)


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Milica Mandžo (1930-1979)

Auf einem goldenen Teller aus angeschlagenem Emaille
Himbeer-Rubin, Heidelbeer-Granat, Trauben-Opal
Und dein goldenes Haar von Silberfäden durchwoben
Und dein Fenster, in dem der Neretva-Smaragd erlosch

Du bist gegangen, als du achtundvierzig warst. Würden wir
Die Zeit außer acht lassen, ginge ich heut mit dir spazieren als dein älterer Bruder
Und nicht als dein Sohn, und die Leute auf dem Korso würden sagen
Da geht ein alter Mann mit einer jungen Frau

Aber du gehörst seit langem der Welt der Schatten an
In die vor kurzem auch mein Vater hinüber gegangen ist
Und niemand auf dieser Welt weiß dass du existiert hast
Nur dieses Herz das in deinem Rauschen pulsiert

Nur dieses Herz welches du als Erste gefühlt hast
Unter deiner Taille und es genährt hast mit der Milch
Des Funkelns. Und ihm die Illusion gabst dass Hoffnung besteht
Aber es besteht nichts als dieses schwarze Land
Eine Erde aus Nihilismus und Musik.

Aus dem Kroatischen von Cornelia Marks

(Entnommen dem Gedichtband: Mile Stojić, Među zavađenim narodima / Zwischen verfeindeten Völkern. – Zagreb: V.B.Z. 2009)


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Aus: Café Nostalgija, (AURA 2007)

Zug ohne Wiederkehr

Der Hauptbahnhof in Sarajevo war restauriert und von seinen Kriegswunden geheilt. Als ich vergangene Woche, nach nunmehr einem ganzen Jahrzehnt, in seine Halle hinein spähte, nahm ich aufs Neue den vergessenen Duft des Reisens wahr, den Duft jener Sehnsucht nach fernen Ländern und unbekannten Städten, in die uns das vom Schrei der Lokomotive aufgeweckte Herz zieht. Frühe Sonnenaufgänge, schlaflose Tagesanbrüche.

Zugegeben, ich hatte diese Länder und diese Städte schon ein wenig satt, genau wie die stählernen Bahnhöfe, in welche mich noch andere Züge gegen meinen Willen trugen, aber wie dem auch sei: die wiederhergestellte Halle des Hauptbahnhofs erschien mir noch einmal wie der Beginn all meiner verlorenen Tänze mit dem Leben.

Es war jedoch wenig von seinem früheren Aussehen übrig geblieben: allenfalls die lateinische Aufschrift Željeznička stanica, hinter welcher einst die gleiche in kyrillischen Buchstaben stand. An deren Stelle prangen heute die englischen Wörter Railway Station, wie die Chiffre und das Emblem einer fernen Welt, der meine Stadt nachstrebt, aber die zu erreichen sie nur schwer in der Lage sein wird. Das riesige Bahnhofsgebäude ist jetzt mit weißem Marmor getäfelt, und in die Mitte wurde eine gigantische Uhr der Marke Siemens gesetzt, welche die Reisenden warnen soll, dass die Zeit des Wartens abgelaufen ist. Allerdings gibt es hier heute keine Reisenden mehr, denn im Ganzen fahren täglich zwei Züge ab. So erscheint das hell restaurierte Bahnhofsgebäude für einen Augenblick wie der Tempel einer ausgestorbenen Religion.

Der Neue Bahnhof Sarajevo wurde im weit zurückliegenden Jahr 1947 erbaut. In ihm gipfelte die Jugend-Arbeitskampagne „Šamac-Sarajevo“. Unter der Agitprop-Parole „wir bauen die Strecke – die Strecke baut uns“ bauten mit Schwielen an den Händen hunderttausend junge Männer und Frauen, unter ihnen auch mein Vater, die vom Krieg zerstörte Heimat wieder auf. Sie schenkten ihr eine moderne Eisenbahntrasse, welche die Stadt unter dem Berg Trebević mit den Docks des Flusses Sava verband. Als coup de grace jener außergewöhnlichen Anstrengung erhob sich der Neue Bahnhof in Sarajevo, den Marshall Tito persönlich eröffnete. Das Bahnhofsgebäude entwarf der Novi Sader Architekt Stojkov, und die Einwohner Sarajevos betonten lange Zeit, dass es sich um eines der drei schönsten Bahnhofsgebäude der Welt handle. Obwohl er der einzige in der Stadt ist, nennen sie ihn bis zum heutigen Tag den „Neuen Bahnhof“. So hüten sie ein sprachliches Zeichen für etwas, was für immer in der erschütternden Geschichte der Stadt begraben bleibt.

Der alte Bahnhof, der sich gegenüber vom heutigen Hotel Bristol befand, wurde zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von Österreich-Ungarn erbaut. Alle Bürger benannten ihn in gebrochenem Deutsch mit - Banovo (dt. Bahnhof). In der Zeit der schmalen Strecken und der harten Gesetze war der Banovo von Sarajevo das Zentrum der Welt: hier konntest du einfach einsteigen und deinen Weg, je nach Wunsch, in Dubrovnik, Zagreb, Jajce, Wien oder Budapest beenden. Aber seit dem Sommer 1914, als vom Banovo Sarajevo mit feierlichem Geleit zwei Särge erster Klasse Richtung Wiener Südbahnhof gesandt wurden, sollten der Umfang und die Tragweite bosnischer Eisenbahnstrecken nach und nach rapide abnehmen, bis die Züge in unserer heutigen Zeit auf diesen Strecken ganz stehen blieben.

Mit einem der letzten bosnischen Züge habe ich selbst im Frühjahr zweiundneunzig die Stadt verlassen. Nie werde ich es vergessen: es war der letzte Sonntag im Mai, der Turmbau Unioninvest brannte wie eine lodernde Fackel, die muslimischen Kräfte hatten, den Berichten des Generalstabs zufolge, „in der Baščaršija Autoreifen verbrannt“, als ich mich durch Glasscherben und Splitter zertrümmerter Fenster zum Neuen Bahnhof durchschlug und ich in dem einzigen Zug strandete, der auf dem Bahnsteig stand. Das Einzige, woran ich mich aus dieser wirren Zeit noch erinnere, sind die stehen gebliebenen Zeiger zweier Bahnhofsuhren, die an der Vorderseite des Gebäudes angebracht waren. Eine gewaltige, zerstörerische Granate vom Trebević (oder aus einer nahe gelegenen Kaserne, das habe ich niemals erfahren) hielt den einzigartigen Uhrenmechanismus an, so dass die Zeiger auf beiden Ziffernblättern auf drei Uhr fünfzehn stehen blieben. Die Zeit stand schon lange still, als ich mit diesem letzten rußgeschwärzten Zug in eine qualvolle Ungewissheit aufbrach, in eine Finsternis – eine bessere als der Tod. Daraufhin brausten eine ganze Ewigkeit keine Züge mehr über die Strecken um meine Stadt.

Als es mir Mitte Juni aus einer weißen und inselartigen Stadt, in der ich mich nieder gelassen hatte, irgendwie gelang, eine Telefonverbindung zu einer Freundin in Sarajevo zu bekommen, sagte sie mir voller Panik: „Da, jetzt gerade, während du anrufst, brennt der Bahnhof. Riesige, lodernde Fackeln züngeln aus dem Gebäude auf die Pofalići, und mir ist, als ob das Feuer mein ganzes Leben verschlingt…“ Die Verbindung riss ab, und die Stille aus dem Telefonhörer sagte mir, dass das Feuer an diesem Tag das Album meiner Erinnerungen verschluckt hatte. Dann rief ich mir tagelang diese Scherben eines Traums ins Gedächtnis, diese zerbrochenen Fragmente der Seele, welche am Himmel Sarajevos flatterten wie Partikel von Asche, und ich versuchte, sie in einem ungeschickten und unreifen Vers zu ordnen:

Beim Anblick der Flammen, die den Bahnhof verschlingen / Ist mir, als hätte jemand den Korb meiner Erinnerungen angezündet / und sie flattern jetzt umher wie panische Bienen / am Himmel Sarajevos / Wie auf einem Bild Chagalls / jagen die einen Züge den Wolken nach / werden die anderen von Erdspalten verschluckt / Mein Vater entsteigt dem Saum des Himmels / mit einer Feldflasche Rakija in der Tasche / und sagt: dreh dich nicht um, mein Sohn / und gib acht, was du tust / Eine Meute Rekruten, darunter auch ich, singt vom Aufbruch ohne Wiederkehr / Die Mädchen, alle, die ich liebte / sind nur gesichtslose Silhouetten / die nach mir greifen in ihren durchscheinenden Kleidern / von einem Rot wie die Mütze des Stationsvorstehers / Im Zentrum flattert das Antlitz meiner Frau Hasija / sanft wie ein Frühlingsmorgen / jetzt etwas geneigt / mit zerbissenen Lippen / und mit leicht schmerz verzogener Miene / Auf dieser Seite sind die Händler, die Betrunkenen, eine Welt, die regungslos verharrt im rotierenden Grauen / Dort: Mutters Kopftuch als Fahne eines Lebens / welches für immer auszog aus dem Gedächtnis.

In dem Augenblick, als ich jene Verse niederschrieb, glaubte ich, ich würde dieses Gebäude nie wieder sehen. Heute spaziere ich durch sein sauberes und restauriertes Inneres wie durch den Tempel einer ausgestorbenen Religion, deren einziger verbliebener Gläubiger ich bin. Vor dreißig Jahren kam ich als Abiturient vom Gymnasium Ljubuški mit dem Zeugnis in der Tasche hierher und nahm zum ersten Mal jenen feuchten, doch betörenden Duft Sarajevos wahr, der dem Menschen ins Blut geht wie Nikotin oder ein anderes Gift, das noch berauschender ist.

Hier habe ich meine Mutter erwartet, die es nicht mehr gibt, Frauen, die es nicht mehr gibt, habe Freunde und geliebte Mädchen ins Dunkle und Ferne verabschiedet. Inzwischen ist die Welt tatsächlich in ihrem eigenen Grauen erfroren. In einer Betrachtung über die Semiologie von Bahnhöfen führt Hans Magnus Enzensberger an, dass der Bahnhof ein Sammelpunkt für Menschen ist, denen alle Züge davongefahren sind. Ob ich einer von ihnen bin, weiß ich nicht, aber ich bin mir ganz sicher, dass alle meine Züge in eine Richtung abgefahren sind. In jene, die da heißt Nimmerwiederkehr.

Übersetzung: Cornelia Marks



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Mile Stojić, Dichter, Essayist und Journalist, wurde 1955 in Dragičina, Bosnien und Herzegowina geboren.

Dichter, Essayist und Journalist, Studium der südslawischen Literaturen und Sprachen in Sarajevo. Redakteur der Zeitung Oslobođenje, von 1989 bis 1992 Chefredakteur der Kulturzeitschrift Odjek Herausgeber der kroatischen Literaturanthologie „Iza spuštenijeh trepavica“ (Sarajevo 1991).

1992 Flucht aus Sarajevo, lebte lange in Wien und unterrichtete an der Universität südslawische Literatur. Heute lebt er wieder in Sarajevo und kommentiert das Zeitgeschehen in Zeitungen und Zeitschriften.

Mitglied des Schriftstellerverbandes Bosnien und Herzegowina, des Verbandes kroatischer Schriftsteller und des PEN. Über 20 veröffentlichte Bücher. Übersetzungen ins Deutsche, Polnische, Makedonische, Englische sowie ins Italienische.

Im Jahre 1995 war Mile Stojić in Wien Mitherausgeber einer Anthologie bosnischer Kriegsliteratur in deutscher Übersetzung mit dem Titel "In Schmerz mit Wut".

Mile Stojić wurde im ehemaligen Jugoslawien vor und nach dem Krieg mit zahlreichen angesehenen Literaturpreisen geehrt.
- mit dem kroatischen Poesie-Preis „Goranov vijenac“ (2007) für sein dichterisches Gesamtwerk
- mit der Auszeichnung des Schriftstellerverbandes Bosniens und Herzegowinas „Bestes im Jahre 2009 veröffentlichtes literarisches Werk“ für seinen Gedichtband „Među zavađenim narodima“ („Zwischen verfeindeten Völkern“).


Poesie: Erzählungen, Essays, Reiseaufzeichnungen, Anthologien: In deutscher Sprache liegen bisher folgende Bücher von Mile Stojić vor:
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